Sonntag, 20. September 2009

Revolte und Repression in Teheran: Ein Augenzeugenbericht

Quelle (Englisch): http://rabble.ca/news/2009/09/revolt-and-repression-tehran-eyewitness-account
Übersetzung: Julia

Es war ein ruhiger Tag in Teheran. Am Vortag hatte es weitere blutige Demonstrationen gegeben. Glücklicherweise hatte ich einen Termin bei meinem Therapeuten, und ich wartete auf mein Taxi, um nach Hause zu fahren.

Ich war zehn Tage vor dem Wahltag nach Iran gekommen, um zu wählen. Ich war positiv überrascht von dem anderen Gesicht, das Iran mir zeigte: Ein Gesicht voller Hoffnung und Optimismus und Einigkeit in der Unterschiedlichkeit. An jeder Straßenecke und in den vollen Geschäften, mitten im Verkehrssmog und auf den Parties in den besseren Wohnvierteln wurde über Politik gesprochen.

Auch wenn Theorien über die Wirkungslosigkeit des Wählens nicht selten waren, traf ich auf eine Mehrheit, die Veränderungen wollte. Die meisten mochten Mousavi oder Karroubi - die beiden führenden Reformkandidaten - nicht einmal, aber sie wollten "nein zu Ahmadinejad" sagen. Die Ahmadinejad-Fans mochten seine direkte Art und seinen bescheidenen Hintergrund. Sie glaubten, er würde das Öl-Geld zurück in ihre Häuser bringen.

An dem sonnigen Nachmittag des 12. Juni stand ich in einer sehr, sehr langen Schlange, um meine Stimme abzugeben. Zahllose SMS kursierten, in denen gewarnt wurde, man solle seinen eigenen Stift benutzen, und ähnliche Taktiken, um jegliche Betrugsversuche zu demontieren.

Am nächsten Tag strömten Tausende fassungslose Menschen auf die Straßen, die meisten mit einem grünen Band am Handgelenk - dem Symbol der Kampagne von Mousavi. Gegen den Willen und die Sorgen meiner Familie war ich dabei. Eine Woche später befand Teheran sich im Chaos, und der Oberste Führer Ayatollah Khamenei bestätigte Ahmadinejads Erdrutschsieg.

In einer Ecke des kalten, hellen Wartezimmers stand der auf lautlos gestellte Fernseher. Kanal Eins, einer der 6 staatseigenen Kanäle, zeigte ein Kochprogramm. Kochprogramme, Tom & Jerry, Wiederholungen alter Serien - so etwas wurde im Fernsehen gesendet, während seit drei Wochen Massenproteste gegen die Wahlergebnisse stattfanden.

Die drei unterlegenen Kandidaten drückten ihre Besorgnis über die gefälschten Ergebnisse aus. Mousavi und Karroubi jedoch, die beiden Oppositionsführer, setzten ihre Anschuldigungen fort und forderten die Menschen zu friedlichen Protesten auf.

Zwei Millionen Menschen später waren Irans Gefängnisse gefüllt mit politischen Gefangenen, die der Spionage, der Planung einer "Samtenen Revolution" und des versuchten Umsturzes des Regimes beschuldigt wurden. Woche für Woche starben Menschen in den Straßen oder wurden gefoltert und vergewaltigt, verletzt und gebrochen freigelassen.

“Ihr Taxi wird bald hier sein", sagte die Frau am Empfang. Die einzigen Wartenden waren ich und ein junger Mann mit kurzem Haar, sehr schlanker Statur und aufgesprungenen Lippen. Ich lächelte ihm zu. "Sie kommen auch zu Dr. L.?" fragte ich. "Ja, schon. Aber ich war ein paar Wochen weg. Er ist ein großartiger Arzt". Er lächelte mir schwach, aber liebenswürdig zu. Etwas brachte mich dazu, ihm die etwas unangebrachte Frage zu stellen: "Wo waren Sie?"

“In Evin,” antwortete er.

Der schreckliche Name des berühmtesten Gefängnisses in Iran hallte im Raum wider. Nordöstlich von Teheran gelegen, ist Evin berüchtigt als Gefängnis für politische Häftlinge und seine angeblich brutalen Verhöre. Es wurde wenige Jahre vor der Islamischen Revolution vom Schah von Iran gegründet, um Häftlinge unterzubringen, die auf ihren Prozess warteten. Nach und nach verwandelte es sich in einen furchtbaren Ort voller politischer Gefangener, von denen viele nicht lebend wieder herauskamen.

Angesehene iranische und internationale Gallionsfiguren sind über die dazwischenliegenden Jahre hinweg in Evin inhaftiert und wieder freigelassen worden, mit Anklagen wie Spionage, Bedrohung der nationalen Sicherheit etc. Zahra Kazemi, eine iranisch-kanadische Fotografin, starb in Evin eines verdächtigen Todes, nachdem sie verhaftet worden war, weil sie das Gefängnis von außen fotografiert hatte. Die Autopsie ergab, dass ihr Schädel und mehrere Körperteile gebrochen waren. Die iranisch-kanadischen Beziehungen verschlechterten sich, nachdem iranische Behörden wiederholt bestritten, dass Kazemi eines "unnatürlichen" Todes gestorben sei.

Ich drehte mich auf meinem Stuhl um und sah den jungen Mann an. "Wann? Was ist passiert? Ich meine - wenn ich fragen darf."

“Bei der ersten Demonstration. Ich bin vor drei Tagen freigelassen worden.”

“Was haben sie gemacht?” fragte ich.

“Das Übliche,” sagte er sarkastisch. Er musste nichts sagen. Wir alle kannten die Übung...

“Zuerst waren wir 18 in einem Raum. Dann wurden einige in Einzelhaft gebracht, andere zu zweit in andere Räume". Seine Stimme klang ruhig, aber seine Augen waren müde.

Alles, was ich denken konnte, war “Was haben sie mit Ihnen gemacht?”

“Zuerst schlagen sie dich sehr viel. Oder sie hängen dich kopfüber auf, peitschen dich aus, treten dich, schlagen dir ins Gesicht und solche Sachen. Und es gibt kaum etwas zu essen. Aber dann wird es... entwürdigender."

Die Empfangsmitarbeiterin rief nach ihm. Nervös drückte ich ihm mein Mitgefühl aus, um ihn wissen zu lassen, dass wir alle hinter ihm stehen. Er wünschte mir Glück und ging zum Sprechzimmer, wobei er mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht seine Hand ausstreckte.

“Es ist furchtbar,” sagte die Mitarbeiterin. Sie war etwas über Dreißig, in vollem Make-up und mit einem besorgten Blick. Sie fuhr mit gesenkter Stimme fort: "Es geht ihm jetzt so viel besser. Er war über drei Wochen dort."

“Gab es dort... sexuelle Übergriffe?"

“Ja... er ist zum dritten Mal hier. Zuerst hat er kein Wort gesagt... er ist erst 19."

Am 31. Juli veröffentlichte Karroubi einen umstrittenen Brief an den einflussreichen und kritischen Geistlichen Hashemi Rajsanjani.

“Einige Häftlinge haben berichtet, dass bestimmte Personen einige der inhaftierten Mädchen so schlimm vergewaltigt haben, dass die Opfer entsetzliche Verletzungen und Schäden der Fortpflanzungsorgane davontrugen... andere haben die jungen Männer mit solcher Gewalt vergewaltigt... sie liegen seitdem bei sich Hause in der Ecke."

Er wurde von führenden Konservativen, die die Vorwürfe bestritten, hitzig attackiert; er wurde als "mental instabil" bezeichnet. Sie kritisierten ihn dafür, dass er das Image des Regimes angriff, während andere ihm für seinen Mut applaudierten, mit der Entühllung der Vorgänge hinter den Gitterstäben ein Tabu zu brechen.

Zwei Tage später schloss die Regierung seine Zeitung.

Seit den Unruhen im Juni sind mehr als 100 politische Schlüsselfiguren verhaftet worden. Inoffizielle Quellen berichten, dass es mehr als 2000 Verhaftungen und ungefähr 300 Tote gegeben hat. Man muss nur einen Blick auf die Hunderte von Familienangehörigen und Freunden werfen, die vor den Toren Evins warten, um eine Vorstellung davon zu erhalten, wie voll es innen sein muss.

Ramin Jahanbagloo, ein renommierter iranisch-kanadischer Intellektueller, der für seine Arbeiten über gewaltlosen Widerstand bekannt ist, hat Evins berüchtigte Zelle 209, die "Hochsicherheitsabteilung" des Gefängnisses, am eigenen Leib erfahren. Bei seiner Rückkehr von einer akademischen Konferenz in Indien wurde Jahanbagloo 2006 verhaftet und verbrachte 125 Tage in Einzelhaft.

“Auf dem Flughafen kamen mehrere Männer auf mich zu und forderten mich auf, ihnen zu folgen... sie drückten meinen Kopf im Auto nach unten und bedeckten meinen Kopf. Nach einer halben Stunde hielten sie an... 'Hier ist der letzte Halt' flüsterte ein Mann mir zu. Ich begriff, dass ich in Evin war. Und am nächsten Tag begann mein Verhör."

Er wurde gegen Kaution freigelassen, allerdings erst, nachdem er ein schriftliches Geständnis veröffentlicht hatte - das komplett falsch war. "Sie lassen dich nicht gehen, bevor du akzeptierst, was immer sie sagen. Allein der psychologische Druck lässt dich alles tun, um herauszukommen", erinnert sich Jahanbagloo.

In den letzten drei Wochen haben eine Reihe wichtiger Reformer, Journalisten und Aktivisten Geständnisse abgelegt und sich in Fernsehprozessen entschuldigt.

Diese sogenannten Schauprozesse erinnern in hohem Maße an die postrevolutionären Prozesse in den Achtziger Jahren und an die Schauprozesse der Stalinzeit in Moskau und lösten innerhalb der allgemeinen Öffentlichkeit eine breite Gegenreaktion aus. In allen Fällen widerriefen die Gefangenen ihre Ansichten und entschuldigten sich.

Die Legitimität der Wahlen, des Obersten Führers, und wohl auch der Islamischen Republik selbst sind zweifelhaft geworden. Die gesamte Opposition zum Regime - angefangen beim jungen, ruhelosen Straßendemonstranten, bis hin zu reformorientierten Regierungskritikern - wird mit gezielter Kraft angegriffen.

Ein anderes Gefängnis, Kahrizak, ein anderer "Hot Spot" für junge verhaftete Demonstranten, wurde auf Anweisung des Ayatollah geschlossen. Er erklärte, die Schließung des "Guantanamos von Iran" erfolge auf Grund von Meningitis. "Diese jungen Leute wurden in riesige Container geworfen", sagt Jahanbagloo.

Berichte von grausamen Vergewaltigungen und den daraus folgenden verheerenden Verletzungen kursierten in den alternativen Medien. Diese Berichte wurden von der Regierung bestritten.

Ein 22jähriger, der wegen Interviews mit ausländischen Medien eingesperrt war, berichtete mir, dass Wachleute ihn geschminkt hätten, bevor sie ihn und einige andere Insassen aufforderten, im Fernsehen ausländische Kräfte zu beschuldigen und Aufstände organisiert zu haben.

Karroubis provokanter Brief hat die Front der Opposition gestärkt. Als er aufgefordert wurde, "Beweise" für seine Behauptungen vorzulegen, präsentierte er am 26. August vier Fälle und fügte hinzu, dass viele der Opfer sich nicht sicher genug fühlten, um ihre Identität und ihre Erfahrungen öffentlich zu machen.

Was die normalen Bürger betrifft, die die Brutalität der Situation nach der Wahl miterlebt haben, gehen die benötigten "Beweise" in der Zwischenzeit die Straßen entlang, sitzen in ihren Zimmern oder liegen in einem Krankenhausbett, wenn sie nicht begraben sind.

Und obwohl die Hardliner noch immer versuchen, die verstörenden Nachrichten zu vertuschen - wörtlich betrachtet, mit Studio-Schminke - stellt die internationale Gemeinschaft ein Instrumentarium zusammen (vom Abzug ihrer Botschafter bis hin zu weiteren wirtschaftlichen Sanktionen), um die Menschenrechtsverletzungen im Iran zu untersuchen.

Bis dahin bleiben die Mitarbeiter in Evin beschäftigt.

Tara Le Tout studiert Journalismus an der Ryerson Universität.

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Siehe dazu auch: "Ein Ort namens Evin"
http://lilalinda-juliasblog.blogspot.com/2009/09/ein-ort-namens-evin.html


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